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Verteidigung der Wirklichkeit

Florian Schneider

Das Kino verhandelte das Unbewusste, das Fernsehen modulierte Entfernung. Heute geht es darum, nicht nur im, sondern vor allem mit dem Netz zu arbeiten. Wie aber kann ausgerechnet in einem Medium, das vorgibt, alles und jeden zu dokumentieren, das Dokumentarische wiederentdeckt oder gar neu erfunden werden?

"Die Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft muss in dem Medium stattfinden, das dominiert". Mit dieser Parole erklärte der Filmemacher Michael Mrakitsch seine eigene und die Entscheidung vieler anderer Filmemacher in den 1960er und 1970er Jahren, im Fernsehen gegen das Ferrnsehen zu arbeiten, anstatt sich in den Nischen des Cineastischen ein Auskommen zu suchen.

Wenn es stimmen sollte, was Mrakitsch gesagt hat, dann ist es höchste Zeit. Politische und ästhetische Strategien, die das Gegebene nicht nur verdoppeln oder illustrieren sollen, müssen die Konfrontation suchen mit neuen Konfigurationen von Macht und Ohnmacht, die in vernetzten Umgebungen simuliert werden. Der damit einhergehende Verzicht auf die Illusionen künstlerischer Freiheit mag aus heutiger Sicht befremdlich wirken, wo doch die Produktion des Dokumentarischen fast komplett vom Fernsehen in noch ältere Medien wie Museum, Theater oder neuerdings auch wieder Kino migriert ist - allerdings nicht aus politischen oder ästhetischen Überlegungen heraus, sondern bestenfalls als eine der wenigen verbliebenen Überlebensstrategien.

Längst ist es ein schrecklicher Gemeinplatz, die Vorherrschaft des Internet über fast alle Lebensbereiche festzustellen. Weit weniger selbstverständlich aber ist es, eben jenes Medium auch zum Austragungsort einer Auseinandersetzung zu machen, die die Fabrikation sozialer Fiktion in Frage stellt und antritt, das Wirkliche zu verteidigen. Die Schwierigkeit, dem Netz ausgerechnet im Zeitalter von so genanntem "Social Networking" einen besonderen Reiz als Ort für kritische Auseinandersetzung abzugewinnen, die über Fragen des Geschmacks, Klatsch und die notorischen Schwierigkeiten seiner Beherrschbarkeit hinausginge, hat sicher vielerlei Gründe.

Sei es, dass vernetzte Realität immer noch als "virtuell" wahrgenommen wird und ihr ein übler Nachgeschmack des Unwirklichen anhaftet, der als Bedrohung von Authentizität und Originalität verstanden wird. Gleichzeitig formieren sich über das Internet-Protokoll vernetzte Dienste zu Apparaturen, die von sich aus jede mögliche Bewegung aufnehmen und speichern, überwachen und protokollieren. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Dokumentation und im trügerischen Schein einer Wirklichkeit zweiter Ordnung steht das Dokumentarische auf doppelt verlorenem Posten.

Je dominanter bestimmte Angebote im Netz werden, die die Sichtweisen von Wirklichkeit auf das unmittelbar Notwendige und eindeutig Bezifferbare reduzieren, desto schneller schwindet das Wissen und die Neugier, wie das Netz eigentlich sonst noch oder wie es gar gegen den Strich genutzt werden könnte. Stattdessen wird Internet in seiner profanisierten Form als Warenverkehrsweg oder bestenfalls als ein Werkzeug begriffen, das sich gefälligst neutral zu verhalten habe. Doch jede noch so ambitionierte Nutzung eines erklärtermaßen auf die Übermittlung von Daten beschränkten Übertragungswegs dürfte dazu tendieren, das Gegebene als solches hinzunehmen – im wahrsten Sinnes des lateinischen Wortes Data, das übersetzt Gegebenes bedeutet.

Es wirkt so, als hätte sich der Spielraum, in dem unabhängig von Verwertungszwang und überkommenen Sehgewohnheiten mit den Möglichkeiten eines neuen Mediums experimentiert werden könnte, bereits in Bereiche ausserhalb des Wahrnehmbaren verflüchtigt. Walter Benjamin hatte schon in Zusammenhang mit der analogen Fotografie bemerkt: "Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein." in diesem Sinne geht es heute darum, mithilfe von neuen Maschinen und gleichzeitig diesen Maschinen zum Trotz, neu sehen zu lernen.

Sichtbar machen heisst Weglassen, egal wie hoch der Grad der Mechanisierung ist. Nicht nur technisch gesehen ist visuelle Produktion immer eine mehr oder weniger bewusst vollzogene Reduktion: Bilder ausschneiden, die Menge und Komplexität des Gegebenen auf das einigermassen Verdauliche komprimieren, Störendes ausfiltern und Uneindeutigkeiten unter die Rauschgrenze abdrängen. Fabriziert wird die Fiktion, als wäre Wirklichkeit konsumierbar.

Solange diese Prozesse standardisiert und einigermaßen allgemeinverbindlich waren, liess sich trefflich darüber streiten: Sehen wir wirklich alle dasselbe? Wem oder was nützt das Gezeigte? Der Zweifel ist die Triebfeder des Analogen, zumindest im Nachhinein und aus heutiger Sicht. Aber erst die Standardisierung der Bildproduktion individuierte die mangelnde Wahrnehmung so weit, dass sie "subjektiv" wurde und Subjektivität produzierte.

Nur solange es allgemein gültige Normen gab, in welcher Qualität Bilder aufzunehmen und zu übertragen sind, welche Auflösung und welches Seitenformat die Regel zu sein habe, worin eine handwerklich ordentliche Kadrierung bestünde, gab es eine nachvollziehbare Berechtigung, die unterschiedlichen Auswirkungen des Gesehenen zu diskutieren.

Verglichen mit den ideologischen Debatten über die Macht der Bildern unterstellte Macht war deren Einfluss auf die Wirklichkeiten des Industriezeitalters wohl eher geringfügig und wurde systematisch überbewertet. Die Bildproduktion war der Wirkmächtigkeit der im gleichen Masse standardisierten Realitäten der Fabrikgesellschaft offensichtlich unterlegen. Dem ist es aber zuzuschreiben, dass normierte und individuierte Wahrnehmung sich so eigenmächtig fühlen konnte, im Gesehenen ein gewisses Maß an Authentizität zu generieren oder zumindest genießen zu können.

Heutzutage sind die Produktionsbedingungen von Bildern Gegenstand von Verhandlungen, die kontinuierlich und ad-hoc stattfinden. Die digitale Komprimierung, das Enkodieren und Dekodieren der Daten, deren Übertragung und Weitervermittlung, sowie die Rezeption und Verarbeitung ergeben sich unter Umständen, die keinen Standards gehorchen und von daher kaum mehr in Frage gestellt werden können. Die Ergebnisse dieser Verhandlungen sind nicht unbedingt vorhersehbar, auf keinen Fall verallgemeinerbar und erst recht nicht bestreitbar.

Authentizität resultiert nun aus einer ungünstigen Verhandlungsposition aufgrund von Faktoren wie mangelnder Bandbreite, zu geringer technischer Kompetenz oder argem Zeitdruck. Sie ergibt sich jedenfalls nicht mehr aus dem Minderwertigkeitskomplex der zum Zusehen verdammten, aber zur Kritik bevollmächtigten Wahrnehmung, die vor allem im Sinn hat, die eigene Ohnmacht zu kompensieren. Stattdessen ist die Aufrichtigkeit von Bildern gerade noch dazu in der Lage, Mitleid oder Häme auszulösen.

Die komplett deregulierte Bildproduktion postmoderner Affektindustrien und der damit einhergehende, spezifische Zynismus des Digitalen kümmert sich nicht mehr um Details. Hier stellt sich ganz schlicht und einfach die Machtfrage: Was bedeutet es, ein Bild zu besitzen? Wer verfügt über die Gewalt und die geeigneten Mittel dazu?

Anders als die fiktionale Bildproduktion musste das Dokumentarische von jeher die Eigentumsfrage stellen: Wem gehört das Sehen? Und daran anschließend weitergehende Überlegungen anstellen: Verringert oder vergrössert ein Bild den Wirklichkeitsvorrat, der in einer bestimmten Zeit vorhanden ist?

Genau darin besteht heute die besondere Bedeutung des Dokumentarischen. Die Auseinandersetzung mit Wirklichkeiten, die in vernetzten Umgebungen produziert werden, kann sich nur dort ereignen. Nur wenn die Verfügungsgewalt über die Mittel, Wirklichkeit mit zeitgemäßen Mitteln zu produzieren, eingefordert wird, ist es möglich, ein Bild zu machen, das zu seiner Gemachtheit steht, das die Wirklichkeit nicht verrät, sondern vermehrt.

Ein herkömmlicher Begriff des Dokumentarischen beruht auf der Idee, Wirklichkeit fest zu halten und zu fixieren, um sie später wiedergeben zu können. Ein besonderer Moment oder spezifischer Punkt werden identifiziert, isoliert, in ein neutrales Speichermedium transferiert und als Ereignis so rekonstruiert, dass anschauliche Formen von Wahrheit generiert werden, die über ihre jeweiligen Bedingtheiten in Zeit und Raum hinaus einen gewissen, wenn auch nicht unbedingt vorhersehbaren, Bestand haben sollen.

In vernetzten Umgebungen ist eine solche Herangehensweise wohl zum Scheitern verurteilt. Wo Ungewissheit die Voraussetzung jeder Äusserung und Instabilität der Normalzustand ist, müssen womöglich völlig gegenteilige Strategien, Wahrheit zu produzieren, erfunden und entwickelt werden.

Es reicht sicher nicht aus, zu betonen, dass alles auf die eine oder andere Weise zusammenhängt, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aufeinander abfolgt und sich auf dieser Basis verselbständigen liesse. Es ist zu einfach, zu verlangen, dass überall Transparenz und Offenheit herrschen solle, ohne das Wirkliche in seiner Einzigartigkeit jedes Mal von Neuem hervorbringen zu müssen. Und es ist eine fürchterliche Vorstellung, das Reich der optischen und damit auch der anti-optischen Erfahrung ohne jeden Widerstand dem Diktat einiger weniger Konzerne und deren proprietären Codes zu unterwerfen.

Ein bestimmendes Merkmal vernetzter Umgebungen besteht darin, dass die Produktion von Bildern definitiv nicht mehr im Kopf stattfindet, wie es bis vor kurzem immer noch so schön hieß. Ein wesentlicher Teil der visuellen Produktion ist ausgelagert worden und findet in Geräteumgebungen statt, die wesentliche Entscheidungen, was Wahrnehmung, Erkenntnis und Vorstellungskraft anbelangt, vorwegzunehmen trachten.

Das Dokumentarische muss Einstellungen finden und auch Stellung beziehen gegenüber einer post-industriellen Produktion von Fiktion, die die Wirklichkeit zusehends in Beschlag nimmt: Verfahren der Mustererkennung, maschinelles Sehen und automatisiertes Bildverstehen erobern wesentliche Bereiche des Alltagslebens in der Kontrollgesellschaft und unterwerfen es ausgefeilten Algorithmen. Empirische Anschauung wird schließlich immer weniger zur Angelegenheit der Sinnesorgane, sondern von kybernetischen Apparaten übernommen, die mit den ihnen eigenen Unterstellungen arbeiten und letztlich nichts als Tautologien produzieren.

Dagegen muss die Wirklichkeit verteidigt werden. Sie kann aber nicht mehr festgehalten und verdoppelt, sondern muss mobilisiert und flüchtig werden. Was aber könnte das heißen? Wohin kann das Dokumentarische flüchten? Letztlich ist es keine Frage des korrekten Umgangs mit Technologie, sondern vielmehr des Gegenteils: Wie kann Technologie entgegen der ursprünglichen Absicht genutzt werden?

Digitale, vernetzte Umgebungen weisen die fast unwiderstehliche Verlockung auf, ein Bild darauf zu reduzieren, was lesbar ist oder lesbar gemacht werden kann. Alles, was in irgendeiner Form unlesbar sein könnte, ist dagegen unmittelbar vom Aussterben bedroht. Denn es wird als unverständlich, als unnütze Information disqualifiziert und demzufolge ignoriert und aussortiert. Die Lesbarkeit der Bilder erlaubt es, sie wie Text zu behandeln und entsprechend ein- und auszulesen. So können sie gesucht und gefunden, kategorisiert, indexiert und etikettiert werden.

Aufschluss über Wirklichkeit gibt das aber kaum. Im Gegenteil, denn letztlich handelt es sich um ein recht redundantes Unterfangen. Die Visualisierung von Daten als Sichtbarmachung des Gegebenen und Verifizierung des ohnehin Offensichtlichen lässt keinen Spielraum für eine Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, die die Regeln, unter denen sie zustande kommt, noch in Frage stellen könnte, geschweige denn das Recht reklamieren könnte, die Produktion selbst in die Hand zu nehmen. Darin aber bestünde die Bedeutung des Dokumentarischen: Wirklichkeiten hervorzubringen, die sich von gesellschaftlichen Zwangsvorstellungen befreien und der Vereinnahmung alles Lebendigen durch technische Apparaturen widersetzen.

Ein solches Vorhaben muss sich heute zurückziehen in Bereiche unterhalb der Rauschgrenze. Der visuelle Untergrund findet sich nicht mehr zwischen, vor oder hinter den Bildern, sondern mitten in ihnen: diesseits und jenseits des Sichtbaren, im Rauschen der angeblich unnützen Information. So wie die Körnung einst die Schönheit des Dokumentarischen ausmachte, berauscht es sich heute an der Unregierbarkeit des vermeintlich Überflüssigen.

Wahrheit entzieht sich dem Kalkül der Wahrscheinlichkeit, sobald Bilder zu einem gewissen Teil wieder unlesbar werden und die vorhandenen Informationen sich nicht gänzlich komprimieren lassen. Der unregierbare Rest und seine unvorhersehbare Vieldeutigkeit stellen die Grundlage eines Begriffs des Dokumentarischen in vernetzten Umgebungen bereit, der die Grenzen des vorhandenen Zeichen- und Begriffsvorrates einer magersüchtigen Realität zu überschreiten trachtet. Ein Dokumentarisches, das darauf aus ist, ein Mehr an Wirklichkeit hervorzubringen, ist heute mit einer paradoxen Feststellung konfrontiert: Kommunikation im Netz tendiert mittlerweile dazu, den Vorrat an Wirklichkeit aufzuzehren, anstatt ihn weiter aufzuhäufen, wie das in den Techno-Utopien der 1990er Jahre gedacht und zum Teil auch umgesetzt wurde.

Immer weitere Bereiche sozialen Austausches, sowohl individueller Kreativität wie auch gemeinschaftlicher Affektivität werden heute einem aberwitzigen Kapitalverhältnis unterworfen, selbst wenn sich damit auch auf absehbare Zeit kein Profit schlagen lässt. So wird Wirklichkeit aber nicht nur quantitativ verringert, sondern auch reduziert auf die algorithmische Berechnung und Ausbeutung von Meta-Daten, die das Nutzerverhalten einzulesen, auszumessen und dann vorwegzunehmen sucht.

Kunst des Dokumentarischen ist von daher Widerstand gegen Kommunikation. Sie besteht darin, sich der allgemeinen Kommunizierbarkeit in vernetzten Umgebungen zu entziehen, mit Brüchen und Unverständlichkeiten zu arbeiten, den semantisch vereinheitlichten Raum des Netzes zu verlassen und die Bereiche unter der Grenze des dort Sicht- weil eben Lesbaren zu erkunden.

Im vernetzten Bild der Wirklichkeit verändert sich jedoch nicht nur die Wahrnehmung von Raum, der von einem perspektivischen zu einem semantischen Gebilde mutiert. Auch die Vorstellung von Zeit verkümmert zu einer Illusion von Echtzeit, in der das Gleiche nurmehr im Gleichzeitigen auftaucht.

Der Übergang von Similarität zur Simultaneität ist auf vielen verschiedenen Ebenen zu beobachten und aus den unterschiedlichsten Motiven kritisiert worden: Sofortige Verfügbarkeit ist paradigmatisch für die Produktion wie auch die Distribution von Bildern. Statt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt es nur noch Echtzeit oder "On-Demand". Der Vormarsch vernetzter, digitaler Technologien ging einher mit dem Gebot, beim Herstellen wie Konsumieren von Bildern keine Zeit zu verlieren. Denn jegliche Verzögerung würde Verlust von Realität bedeuten; augenblickliche Bereitstellung wird dagegen als ein Gewinn verbucht, der weit mehr als nur ein Zeitgewinn ist, weil er mit dem Akt der Aneignung kurzgeschlossen wird.

Beim digitalen Simulakrum kollabiert die lineare Zeit zu einer vernetzten Allgegenwärtigkeit, ohne dass die Frage, inwieweit ein Bild seinem Vorbild ähnelt, noch zur Debatte stünde beziehungsweise überhaupt beantwortet werden kann. Egal ob Videoüberwachung, Live-Übertragung oder Reality TV: Die Herstellung von Authentizität ist endgültig zu einer Frage der Inbesitznahme geworden, die unverzüglich zu erfolgen hat und keinerlei Dauer kennt.

Deswegen muss sich das Dokumentarische auf die Suche nach der falschen anstelle der echten Zeit begeben: Zu früh oder zu spät, auf keinen Fall im richtigen Moment, um ein Bild auf- und damit in Besitz zu nehmen. Das Scheitern, das mit der falschen Zeit einhergeht, ermöglicht neue Einsichten, die in dieser Form nicht kalkulierbar und vorhersehbar waren. Es mag dazu führen, einen Blick auf den Quellcode der vernetzten Wirklichkeit zu riskieren und die Eigentümlichkeit von Bildern wahrzunehmen, die sich nicht besitzen lassen, niemands Eigentum sind und deswegen jedes Mal, wenn sie erblickt werden, anders aussehen können.

Die falsche Zeit ist also eine Zeit, die zumindest nicht vorgibt, echt zu sein. Wahrscheinlich lässt sie sich ebenso schwer ausfindig machen wie seinerzeit der falsche Schnitt. Schließlich ist es verhältnismässig einfach festzustellen, wann der richtige Zeitpunkt sein könnte. Was aber eine falsche Zeit wäre und nach welchen Kriterien sie zu bestimmen ist, darin liegt eine der grossen Herausforderungen des Dokumentarischen.

Bei der falschen Zeit und dem unlesbaren Rest handelt es sich sicherlich nicht um völlig neue Ansätze, die erst mit den digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien zur Verfügung stünden. Im Gegenteil, es ließe sich bestimmt nachweisen, dass das Dokumentarische im Vergleich zur Dokumentation in gewisser, wenn auch vielleicht nicht entscheidender Weise, durch zwei Verweigerungen gekennzeichnet ist: sich auf das Lesbare reduzieren zu lassen und einen flachen Begriff von Aktualität und Zeitgemässheit einzulösen.

Doch bei der Verteidigung des Wirklichen können der unlesbare Rest und die falsche Zeit heute eine womöglich entscheidende Rolle spielen. Ausgerechnet diese beiden Merkmale des Dokumentarischen sollten in der Lage sein, die herrschende Produktion von Kontinuität zu unterbrechen, die pausenlos stattfindet, um dem Bestehenden die im Zeitalter der Vernetzung so dringend benötigte Legitimation für die von ihr beanspruchten Exklusivrechte an der Wirklichkeit zu liefern.

Traditionell resultiert Kontinuität aus der Fabrikation von linearer Zeit und zusammenhängendem Raum: Uneindeutigkeiten werden eliminiert, Widersprüche versöhnt, das Unmittelbare standardisiert, um das nicht Begeifliche auf eine bequeme Auswahl sich ständig wiederholender Fakten zu reduzieren. Kontinuität fungiert dann als eine Art ideologisches Fitness-Studio für die Seele. Dort wird in einer von Fremdeinflüssen isolierten, geschützten Umgebung der drohende Ich-Verlust trainiert, um das Selbst ständig seiner selbst zu vergewissern.

Welche Bedeutung aber hat Kontinuität heute - in einer scheinbar geschichtslos vernetzten und konvergierenden Medienwelt? Verglichen mit traditionellem Filmhandwerk wird Kontinuität in vernetzten Umgebungen unter jeweils entgegengesetzten Vorzeichen hervorgebracht. Denn die Wahrnehmung sowohl von Zeit als auch von Raum inmitten von vernetzten Umgebungen haben ihre Bedeutungen vertauscht.

Bestand im klassischen Film die Aufgabe von "Continuity" darin, synthetische Zeit und konsistenten Raum so zu etablieren, dass sie von den Zuschauern als ebenso plausibel wie verführerisch erachtet werden, ist Kontinuität heute keine Frage von Mechanik und Geometrie mehr. Statt aus einer vermenschlichten Perspektive das Geschehen in eine schlüssige Abfolge zu bringen, geht es heute darum, ein Ereignis und seine Repräsentation gleichzeitig herzustellen.

Solange die Kontinuität des Netzes auf den Prinzipien von sofortiger Verfügbarkeit und allgemeiner Austauschbarkeit basiert, verlangt sie das Ausgestalten von vereinheitlichten semantischen Räumen und treibt sie unaufhaltsam das Fingieren von Echtzeiten voran, in denen es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt.

Ein kritischer Begriff von Kontinuität muss sich diesen Zwangsvorstellungen von einer homogenisierten Wirklichkeit entziehen. Zunächst könnte dieser Begriff dadurch gekennzeichnet sein, dass die Gegenwart als der Beginn der Vergangenheit und nicht als deren Ende verstanden wird. Kontinuität müsste dann nicht in einer unablässigen Selbstvergewisserung bestehen, sondern könnte im Kampf gegen die Allgegenwärtigkeit des sich unvermeidlich Wiederholenden neu verstanden werden. Es verwiese nicht nur auf die zu Unterhaltung verkommene Beschäftigung mit Geschichte; mit Brüchen und Pausen, Stillstand und plötzlicher Bewegung würde sich Vergangenheit auch jeder Form von Bewältigung widersetzen.

Die falsche Zeit des Dokumentarischen würde somit den Beginn einer selbstkritisch vernetzten Unzeitgemässheit beschreiben, in der die herrschenden Prioritäten und Abhängigkeitsverhältnisse gehörig durcheinander gebracht werden könnten. Der falschen Zeit muss allerdings eine der Kardinaltugenden der analogen Audiovisualität geopfert werden, die im Zeitalter der digitalen Produktion ohnehin fast in Vergessenheit geraten ist: Das nachträgliche Synchronisieren von Bildsequenzen und Tonspuren. Mittlerweile ist dieser Vorgang automatisiert und geschieht deswegen unbemerkt.

Im Blick auf Netzwerke, zu deren ursprünglichen Eigenschaften die multidirektionale Verbreitung und das beliebige Empfangen von Inhalten gehört, drängt sich aber auch der Gedanke auf, diese vermeintliche Selbstverständlichkeit zu revidieren. In einer falschen Zeit stünde die Tonspur nicht länger im Frondienst der Bilder, würde die durch die Handlung erzwungene Warenförmigkeit und Austauschbarkeit der Wahrnehmung in Frage gestellt und würde die freiwillige Selbsterniedrigung der Zuschauer als zur Stummheit verdammtes Publikum offensichtlich. Schliesslich braucht das Dokumentarische die Unleserlichkeit und Vieldeutigkeit des Wirklichen nicht zu fürchten. Es wird vielmehr darauf aus sein müssen, die heterogenen Datenströme aufzugreifen und umzuwerten. In diesem überwältigenden Chaos von geradezu mythischem Ausmaß ist eine ungeheure Bandbreite von politischen, sozialen und kulturellen Auseinandersetzungen aufzuspüren.

Jedes Mal, wenn sich der Begriff des Dokumentarischen erneuert hat, ging die Neuerfindung einher mit einem radikalen Milieuwechsel: von der frühen Landschaftsfotografie in die Porträt-Ateliers, von den "lebenden Porträts" im Wander- und Jahrmarktkino in die Studios des Stummfilms und von dort dann in die Fabrik, den Krieg oder zurück in die Natur. In den 1960er Jahren war es die Strasse, in die das Dokumentarische befreit von den Fesseln der schwerfälligen Studiotechnologie überwechselte. Kamera- und Tonaufnahmegeräte wurden tragbar, Filmemacher und Videokünstler nutzten die Gelegenheit und schleppten die Geräte raus auf die Strasse, wo unkontrollierbare Lichtverhältnisse und ein nicht zu identifizierendes Stimmengewirr herrschten. Es ging darum, sich den Reizen des Lebendigen auszusetzen, ein öffentliches Leben wahrzunehmen und eine Wirklichkeit zu fassen zu kriegen, die einst unabhängig von medialer Vermittlung existierte.

Mittlerweile sind die Straßen mit Kameras überwacht und öffentlicher Raum ist eine Ansammlung öffentlicher Bilder im Netz geworden. Im Umkehrschluss heisst das aber auch: Die Straße des Dokumentarischen von heute ist das Netz. Hier, in der Republik der Bilder, ist es nicht weniger riskant und gefährlich und der Kontrast zu der herkömmlichen Art Film zu machen, könnte nicht größer sein. Wir müssen es nur neu sehen.

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